Carmine Crocco: Der Brigant und Rebell Italiens im 19. Jahrhundert
Carmine Crocco, auch bekannt als „Donatello“ oder „General der Briganten“, war eine der zentralen Figuren im südlichen Italien während der Periode der italienischen Einigung im 19. Jahrhundert. Als charismatischer Anführer von Briganten – einer Gruppe von bewaffneten Banden – und Rebell gegen die neugegründete italienische Monarchie, wurde er für viele zum Symbol des Widerstands gegen die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten, die Süditalien nach der Einigung heimsuchten. Um Crocco zu verstehen, ist es notwendig, einen genaueren Blick auf die historische, politische und soziale Landschaft Italiens dieser Zeit zu werfen.
Historischer Hintergrund: Italien im 19. Jahrhundert
Italienische Einigung und die Rolle des Südens
Italien war im frühen 19. Jahrhundert in viele kleine Staaten zersplittert, die von ausländischen Mächten wie Österreich oder Spanien kontrolliert oder beeinflusst wurden. Der Risorgimento – der Prozess der italienischen Einigung – begann in den 1820er Jahren und gipfelte 1861 mit der Gründung des Königreichs Italien unter der Führung des Hauses Savoyen. Zentrale Figuren dieser Bewegung waren Giuseppe Garibaldi, Graf Cavour und König Viktor Emanuel II.
Die Einigung bedeutete jedoch nicht für alle Italiener das Ende von Unterdrückung und Not. Besonders im Süden des Landes, dem sogenannten Mezzogiorno, fühlten sich viele Menschen vom neuen italienischen Staat vernachlässigt und betrogen. Der Süden, der zuvor das Königreich beider Sizilien gebildet hatte, war wirtschaftlich rückständig und überwiegend ländlich geprägt. Der Übergang zu einer einheitlichen Regierung verschärfte die Probleme, da viele Süditaliener die hohen Steuern, die Zwangsrekrutierung und den Verlust lokaler Autonomie als Bedrohung empfanden. Diese Frustration führte zu einer weit verbreiteten Unterstützung für den Brigantismus, eine Form des bewaffneten Banditentums, das sich gegen den Staat richtete.
Wer war Carmine Crocco?
Carmine Crocco wurde 1830 in Rionero in Vulture, einer kleinen Stadt in der Region Basilicata, geboren. Seine frühen Jahre waren von Armut und Schwierigkeiten geprägt. Er arbeitete zunächst als Schafhirte, bevor er 1848 als junger Mann in die Armee des Bourbonenkönigs Ferdinand II. eintrat, der damals das Königreich beider Sizilien regierte.
Sein Leben nahm jedoch eine drastische Wendung, als er in einen Mordfall verwickelt wurde und fliehen musste. In den folgenden Jahren trat Crocco in die Welt der Briganten ein, zunächst als einfacher Bandit, dann als Anführer. Während des Risorgimento kämpfte er zeitweise sowohl für die Bourbonen als auch für die italienischen Revolutionäre, wechselte jedoch mehrfach die Seiten, abhängig von der Aussicht auf Freiheit und Unterstützung.
Croccos Aufstieg zum Brigantenführer
Nach der endgültigen Einigung Italiens im Jahr 1861 kehrte Crocco nach Süditalien zurück, wo er von vielen Bauern und Landlosen als Held betrachtet wurde. Die Landbevölkerung litt weiterhin unter Armut, hohen Steuern und den Folgen der Zwangsrekrutierung durch die neue Regierung. Diese Bedingungen schufen den idealen Nährboden für den Brigantismus.
Crocco formte eine Armee von bis zu 2.000 Briganten, die sich aus Bauern, ehemaligen Soldaten und Kriminellen zusammensetzte. Er führte seine Männer in einen Guerillakrieg gegen die piemontesische Armee und die neue italienische Regierung. Unter dem Schlachtruf „Viva Francesco II!“ – in Anlehnung an den gestürzten Bourbonenkönig von Neapel, Franz II. – attackierte Crocco Städte, überfiel Konvois und organisierte Überfälle. Seine Fähigkeit, die verstreuten Briganten zu einer kohärenten und effektiven Kampftruppe zu machen, brachte ihm den Ruf eines fähigen und gefürchteten Anführers ein.
Die soziale Frage: Die Lage der Bauern im Mezzogiorno
Die Unterstützung, die Crocco von der Landbevölkerung erhielt, war kein Zufall. In den ländlichen Gebieten des Südens hatten die Bauern kaum Landbesitz und litten unter extremen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten. Der Großteil des Landes befand sich in den Händen von Großgrundbesitzern und Adligen, die wenig Interesse an den Bedürfnissen der Bevölkerung hatten. Die neuen Steuern, die nach der Einigung eingeführt wurden, belasteten die Menschen zusätzlich.
Viele Bauern sahen im Brigantismus eine Form des Widerstands gegen die Unterdrückung durch den Staat und die Oberschicht. Crocco verstand es, dieses Unbehagen für seine Zwecke zu nutzen. Er versprach, den Reichtum der Reichen zu nehmen und den Armen zurückzugeben – ein Versprechen, das ihm den Status eines Volkshelden in den Augen vieler einbrachte.
Die Bekämpfung des Brigantismus
Die Reaktion der neuen italienischen Regierung auf Croccos Aktivitäten war brutal. Um die Aufstände im Süden zu unterdrücken, wurden massive Militärtruppen in die betroffenen Regionen geschickt. Dieser Konflikt, der zwischen 1861 und 1864 tobte, war nicht nur ein Krieg gegen Banditen, sondern auch ein Versuch, den Süden zu „italienisieren“. Die piemontesischen Truppen verübten zahlreiche Gräueltaten, darunter Massaker an Zivilisten, Plünderungen und die Zerstörung ganzer Dörfer, um den Widerstand zu brechen.
Trotz seines militärischen Geschicks wurde Crocco schließlich 1864 von den eigenen Männern verraten und gefangen genommen. Er wurde in Neapel vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt, aber später in lebenslange Haft umgewandelt. Crocco verbrachte den Rest seines Lebens im Gefängnis, wo er 1905 starb.
Carmine Crocco und die unruhige Einigung Italiens
Carmine Crocco war nicht nur ein gewöhnlicher Bandit, sondern auch ein Symbol für die tiefe Spaltung zwischen Nord- und Süditalien während der italienischen Einigung. Während der Norden von Industrialisierung und Fortschritt profitierte, blieb der Süden arm und rückständig. Crocco wurde von den einen als Gesetzloser und Verbrecher, von den anderen als Volksheld und Freiheitskämpfer gesehen.
Sein Leben und Wirken werfen ein Licht auf die oft übersehene Seite der italienischen Geschichte – die Kämpfe und Leiden des Mezzogiorno während des Risorgimento. Der Brigantismus, dessen bekanntester Anführer Crocco war, war ein Ausdruck des Widerstands gegen eine Einigung, die viele im Süden als aufgezwungen und ungerecht empfanden.
Italien war nach der formellen Vereinigung 1861 zwar ein geeintes Land, aber die tiefen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gräben, die durch Männer wie Crocco sichtbar wurden, sollten das Land noch lange prägen und bleiben ein Thema bis in die Gegenwart.
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